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Erfahrungen aus Norwegen

Im Spiegel (Heft 27/1997) schreibt Erik Fosnes Hansen unter den Titel "Babel am Polarkreis" über die Erfahrungen der Norweger mit ihren Rechtschreibreformen und resümiert: "Sie [die Norweger] zanken seit einem Jahrhundert über ihre Orthographie."

Der Spiegel schreibt weiter: "Aber der bedeutendste Vorteil bei der deutschen Rechtschreibung: Sie ist einheitlich, alle Wörter werden überall ungefähr gleich geschrieben, und sie ist seit langer Zeit stabil. Man findet nicht in einer Zeitung die eine und in einer anderen eine andere Schreibweise; eine vom Ministerium, eine bei den Sozialdemokraten, eine andere bei den Konservativen, eine in einem Wörterbuch, eine andere im Akademiewörterbuch und eine dritte im Sprachnormierungsrat; eine in Büchern aus dem Jahre 1950, eine andere in Büchern aus dem Jahre 1970, eine bei den älteren Schriftstellern, eine zweite, dritte und vierte bei den zeitgenössischen."

Über das Ergebnis der norwegischen Rechtschreibreformen: Es "kommt der Begegnung von Materie und Antimaterie in der Physik gleich: Die Energieentladung ist enorm, das Resultat nichts."

"In Wahrheit war diese 'Rechtschreibung' eine totale Sprachreform, mit bestimmten ideologischen Zielen."

Makaber: "Berühmt ist die Geschichte vom Meteorologen, der im Radio nicht mehr den Wetterbericht lesen durfte, weil er die alte Form 'sne' (Schnee) benutzte, statt gesamtnorwegisch 'snø' zu sagen. Es spielte keine Rolle, daß alle Norweger ausnahmslos verstanden, daß es am nächsten Tag schneien würde, wenn er 'sne' sagte: Das Wort 'sne' war zum Auslaufmodell erklärt worden. Und der Wettermann wurden in die Kälte hinausgeworfen ­ in den snø, sozusagen."

" ... der Sprachenkampf zum großen politischen Thema der fünfziger Jahre wurde. Schriftsteller versuchten ­ wie jetzt in Deutschland ­, die Veränderung ihrer Texte zu verbieten, der Schriftstellerverband spaltete sich, es gab Unterschriftenlisten, Demonstrationen und Protestbewegungen, die Eltern korrigierten organisiert die Schulbücher ihrer Kinder zu alten Formen zurück."

Der Satz "Die Frau hob die Hand" läßt sich im Norwegischen korrekt auf mindestens 10 verschiedene Weisen schreiben. "Selbständigkeitsbewegung" auf 12, "Schlechtverdienende Mitarbeiterinnen von Heimpflegediensten verlangten Lohnerhöhung“ auf insgesamt 3072.

Außerdem: "Je nachdem, wie wir dieses oder jenes Wort buchstabieren, werden wir im politischen Spektrum eingeordnet. Schreibst du 'sjøl' (selbst), dann giltst du als progressiv und volksfreundlich, schreibst du 'selv' (selbst), bist du bürgerlich und reaktionär."

"Das Komische ist, daß alle vier Millionen Norweger einander verstehen, daß wir im Alltag keine Schwierigkeiten im Umgang miteinander haben. Probleme ergeben sich aber sofort, wenn jemand provokanterweise eine Form für korrekt und eine andere für falsch befindet."

Die Norweger haben gelernt, "daß Rechtschreibung keine gottgegebene Größe ist, sondern eine zutiefst relative und zwischenmenschliche Übereinkunft".

"Wir können sagen, die Rechtschreibung sei privatisiert worden, jetzt haben wir viermillionen verschiedene. Nebenbei haben wir gelernt, daß Sprachwissenschaft keine exakte Wissenschaft ist, sondern nur eine Reihe von Ansichten, die sich als exakte Wissenschaft verkleiden."

Als Summe ihrer Erfahrungen geben die Norweger weiter: "Wir sollen darauf vertrauen, daß die Sprache ihre Probleme schon selbst löst; offizielle Reformen mit ihrer Prägung von Kompromissen und Mehrheitsentscheidungen bringen nichts Gutes. Die Sprache gehört allen, nicht irgendeinem Komitee. Sie läßt sich nicht per Handzeichen vereinfachen oder demokratisieren, wir können nicht beschließen, sie zu reinigen oder zu verbessern; sie ist groß und unregierbar und unfaßbar, sie ist älter als wir und jünger als wir, sie ist größer als wir und gehört niemandem."

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