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Meine Geschichte "Die Schuhe"

Aus der bretterbeschlagenen Kammer unterm Dach sah ich auf die steile Straße: im Schein der Gaslaternen glänzten die Menschen, die Fahrzeuge, die Häuser gelb. Der Winter war stark in die Stadt gekommen. Die Schneeketten des Ikarus rasselten, fanden keinen Halt, sein langes Heck schlingerte straßenbreit. Die Leute verließen den Bus, und tatsächlich: sie mühten sich, ihm beim Erklimmen der Straße zu helfen. Aber diese Straße war der Ausgang vom Tal, und bis zum Kamm mußte man am Friseur, am Bäcker und weit oben am Konsum vorbei. Nun gaben die Fahrgäste auf. Wahrscheinlich hatten die Frauen den Männern gesagt, wie weit es bis zum Konsum ist. Denn Männerwege führten nur bis zu mir. Tief unter meiner Kammer lag die Gastwirtschaft, in der Bier in Flaschen mit Schnappverschluß verkauft wurde. Die Frauen stiegen in den Bus, die Männer ereiferten sich rauchend. Wir warteten. Endlich schaute die schmale, lange Motorhaube zwischen den Vorderrädern um die Kurve, endlich steuerte der mächtige blaue Traktor die vier gleichgroßen Räder vor den Bus. Die Männer schnippten die Zigaretten in den Schnee, während der Fahrer des Busses dem Traktoristen signalisierte. Schließlich rastete die Abschleppstange bei einem lauten sächsischen HOUH! in die Kupplung des Traktors ein. Dann klammerte sich der tief profilierte Gummi ans Eis, und der Traktor zog den Bus aus dem Tal.

Es wurde Zeit für die Schule. Meine Mutter war bereits aus dem Haus. So hüpfte ich von Stufe zu Stufe die hölzerne Treppe hinunter. Dabei fühlte ich ein sachtes Kreisen, und lodernd beherrschte mich Sehnsucht nach dem tobenden Drehen, dem ich stets beim Rollerfahren verfiel. Aber jedes Jahr, wenn sich der Winter ankündigte, verbot mir meine Mutter das Rollerfahren. Es sei zu gefährlich bei diesem Wetter, sagte sie. Zu lange schon war das Wetter gefährlich! Mit einem Mal peitschte die Lust nach diesem Ins-Tal-Jagen, nach diesem Nicht-mehr-Rollen und Noch-nicht-Fliegen so hoch in mir, daß ich an diesem Wintertag nicht in die hohen Schuhe stieg, sondern in die abgelaufenen Abenteuerschuhe schlüpfte, in denen ich im Frühjahr, im Sommer und im Herbst durch die Welt stöberte.

Der Bus war lange über den Berg, der Traktor wieder im Tal, als ich mich am Gartentor abstieß, die fünfzehn Meter zur Kurve schlitterte, den Bogen nahm und ins Tal schoß. Ich hatte einen Düsenantrieb auf dem Rücken, ich beschleunigte die Fahrt, ich sprang, sprang von Platte zu Platte, ich hob ab! Jetzt fliege ich zur Schule, die anderen sehen zu mir hinauf, ich winke die Wolken auseinander, den Platz frei zur Landung, jetzt fliege ich ... - Aber da war ich im Tal angekommen. Nun ging ich, der Ranzen wieder Ballast. Ich hopste hallend im betonierten Tunnel unter den Gleisen, überquerte den Markt, auf dem jedes Jahr der Zirkus gastierte, spähte von der genieteten Brücke hinunter in den Fluß und sah die Farbe, mit der heute in der Fabrik die Stoffe gefärbt wurden, glitt mit der Hand über den großen runden Stein, dem Überbleibsel der eingefallenen Mühle, schwenkte den Blick von der Turmuhr der ältesten Kirche der Stadt zum Theater, erinnerte mich an Tadeus Punkt und Krümel, die dort aufgetreten waren, und erkannte schon die Schule im Schneetreiben.

Die alte Schule stand auf der anderen Seite des Tales, am Beginn seines ebenso steilen Ausgangs. Ich traf Klassenkameraden. Plaudernd wollte auch ich den Berg besteigen, aber meine Schuhe rutschten ins Tal, der Ranzen zog mich zur Schule, ich stürzte. Die anderen lachten: Was ziehst du auch Halbschuhe an! Ich stand auf, klopfte den Schnee von den Hosen, den Schmutz aus den Handflächen: dafür bin ich schneller als ihr zu Haus!, und stakte wie ein Skiläufer den Hang hinauf.

Die anderen waren längst in der Schule, als der Direktor mit den sechs Fingern an jeder Hand und den zwölf Zehen an mir vorbeieilte. Ich grüßte ihn, und er fragte mich, was meine Mutter sagen würde, wenn sie mich in Sommerschuhen sähe. Ich starrte in den Schnee. Er hatte Mutter das ABC gelehrt, später wurden sie Kollegen, und einmal hatte Mutter in meinem Beisein gefordert, er solle mir die Löffel langziehen, wenn ich nicht pariere. Mit seiner Sechsfingerhand! [1] Aber als ich dem Blick dieses Riesen hätte standhalten können, hatte er das Gebäude bereits betreten.

Grölend erwarteten mich die Klassenkameraden. Alle wußten von meinem Sturz. Ich klappte die Sitzbank herunter. Wütend bohrten meine Augen in das schräge Pult. Ihr werdet schon sehen!

In der großen Pause tobten alle auf dem Hof, die Schneeballschlacht ließ die Hände glühen. Ich stand abseits, ich war kein guter Werfer, ich schlitterte die Sohlen schneller.

Irgendwann, viel zu spät, wurde die letzte Stunde ausgeläutet, wir rannten auf den Hof, ich verabschiedete mich. Ich war doch schneller als die anderen. Wieder jagte ich ins Tal hinab, die anderen glitten nicht einen Meter, ich jagte, jagte, ich federte in den Knien, sprang, wenn ein Hügel kam, und war Stunden vor ihnen an der Straße. Natürlich wartete ich auf sie. Sie kamen heruntergerannt, versuchten immer wieder zu schlittern, aber die rauhen Sohlen ankerten ihre Füße. Sie bewunderten meine Schuhe, ich zeigte ihnen die schnellen Sohlen. Sie bestaunten meinen Mut, keine Winterschuhe anzuziehen, und alle beschlossen, morgen in Abenteuerschuhen zu kommen.

Ich wählte am Nachmittag gern einen anderen Weg als morgens. So ging ich die kleine Bäckergasse vom Rathaus bis zum Kaufhaus, an der Post vorbei, unter der stählernen Eisenbahnbrücke hindurch und entlang an den von Mauern gestützten erhöhten Gleisen zum hallenden Tunnel. Gerade wollte ich den Berg hinauf, da hörte ich vom Bahnhof das Pfeifen einer Lokomotive, dann ihr kraftvolles Stampfen. Die Lokomotive stampfte und stampfte, preßte dunkle runde Wolken in den weißen Himmel, hüllte ihre riesigen roten Räder in Dampf, der neben den Schubstangen entwich, vermischte jenen mit Dampf aus den undichten Kupplungen der Heizungsschläuche zu dichtem, den Zug begleitenden Nebel. Die Lokomotive stampfte, stampfte immer schneller, legte den Himmel, die Straße und auch mich in einen warmen Schwefeldunst, stampfte, stampfte und entschwand in rascher Fahrt meinem Blick. Ich folgte den hoch in den Himmel geworfenen, sich dehnenden, sich allmählich auflösenden Rauchbällen bis die Lokomotive weit aus der Stadt war, Kilometer entfernt ihren Weg suchte. Nun wollte ich den Berg hinaufstampfen. Meine Sohlen aber waren glatt, der Schnee getreten. Ich war keine Lokomotive. Ich war ein schlingernder Bus, und kein Traktor war da, mich zu ziehen. An Regenrinne, Blitzableiter, Hackenkratzer zog ich mich mühsam den Berg hinauf.

Meine Mutter war zu Hause. Sie empfing mich nicht wie gewohnt. Sie schimpfte, war erregt, fragte, ob ich denn krank werden wolle. Leise legte ich den Ranzen in die Ecke. Meine Mutter drückte mich an sich. Ich solle ihr nie wieder solchen Schreck einjagen, ich sei doch ihr Bester, sagte sie.

Mein Vater schimpfte nicht, tadelte nicht, er schwieg. Mein Vater war seit Jahren tot.

Ich stieg hinauf in meine Kammer, der Gasmann entzündete die Laternen, ich fühlte die Fahrzeuge, die Häuser, meine Eltern im Gelb glänzen und wartete auf einen erschöpften Bus und den starken Traktor.


[Mitte der 1980er Jahre.]


[1] "Mit seiner Sechsfingerhand!" schrieb nicht ich, sondern der Lektor und Leiter des Zirkels Schreibender Arbeiter im Kulturhaus Potsdam-Babelsberg. Ich wollte die Geschichte ohne diesen Satz drucken lassen, denn wenn man jemand an den Ohren zieht, ist es egal, ob man fünf oder sechs Finger hat. Außerdem ist dem aufmerksamen Leser verständlich: wenn man von jemand am Ohr gezogen wird, der sechs Finger pro Hand hat, dann mit einer Sechsfingerhand.

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