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Meine Geschichte "Die Karte" (2012)

Ich sitze im Sessel unter der Leselampe und halte eine Karte in der Hand: Treulose Seele! Ich schreibe, schreibe, aber du meldest dich nicht. Warum nur? Brauchst du mich nicht mehr? Rufe an, bitte. Ruf an! Anne.

Ich gehe auf den Balkon. Ich brauche niemanden. Niemanden! Doch, doch. Nein! Doch, glaub es, belüg dich nicht. Ich weiß es besser! Du weißt nicht alles. Du auch nicht! Doch, doch. Ruhe!

Meine Kräfte schwinden. Unter mir die Balkone des Rothaarigen, des Musikers, des Punkers, dann der gepflasterte Weg zur Straße; links wurzelt die Birke im kleinen Geviert zwischen den Steinen. Auch sie ohne Hoffnung.

Ich werfe die Zigarette im Bogen. Rothaariger, Musiker, Punker, Aufschlag.

Das Geländer ist zu hoch, ich hole mir den Hocker aus der Küche. Nun stehe ich auf der Brüstung im dunklen Wind und streife die Fänge der Birke beiseite.

Es ist wie beim Turmspringen. Vom Wind getrieben und ein Kribbeln im Bauch. Die Etagen sausen vorbei. Rothaariger, Musiker, Punker, dann ... Mein Gott, der Aufschlag. Wo bleibt der Aufschlag?

Ich falle und falle, das Haar knäult sich über dem Kopf, die Sohlen werden heiß, ich will die Flammen erschlagen, aber meine Hände sind weit über dem Kopf. Ich falle und falle, die Flammen züngeln nach mir, ich presse den Atem gegen sie, und sie lachen mich aus. Ich falle und falle, das Licht schwindet, ich stürze ins Dunkel, ich bin schneller als das Licht.

Es wird wieder hell, es wird hitzig hell, riecht nach verbranntem Haar, nach schmelzender Haut. Ich brenne. Greif dir den Eimer, wirf mir das Wasser hinterher, Anne!

Warum rufst du nicht an? Ich kann nicht, ich brenne! Ich stürze und stürze, leuchte mir rot den Weg. Rufst du an? Gewiß! Da verdampft das Wasser auf der Haut, dann tauche ich in kalte Fluten.

Aufrecht erstarre ich, vom kalten Schweiß gekapselt, im Bett. Die Füße ragen weiß unter der Decke hervor.

Ich greife zur Zigarette. Nach den ersten Zügen komme ich zu Atem. Ich raffe mich auf und dusche. Die Zigarette ertrinkt.

Als die Haut wieder wärmt, schlüpfe ich in die Jeans, in den Pulli, steige in die Schuhe und gehe die einhundertsechzig Meter zur Telefonzelle.

 

[Entstanden Mitte der 1980er Jahre. Veröffentlicht 1990 Jahre. Überarbeitet 2012.]

 

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